Nikolai Vogel: 40 (Aperitivo)

Rede zu meinem Vierzigsten. Aperitivo im Atelier, Platform 3, München am 10. Januar 2011
 

Nikolai Vogel - Speeches, Reden: 40 (Aperitivo)
 

40
(APERITIVO)

Was muss das für ein Schock sein ...

Was muss das für ein Schock sein, das erste Mal Atem holen. Oder ist es ein Rausch? Wenn sich die Lungen plötzlich füllen, wenn der Köper geflutet wird, wenn diese völlig neue Umgebung hereinströmt. Abgenabelt, im wörtlichen Sinne. Von der Schnur also, die über die Mütter und Großmütter und Urgroßmütter immer weiter zurückführt, durch die Neuzeit und das Mittelalter, die Eisenzeit, die Bronzezeit, die Steinzeit, am Neandertal vorbei, in die Kreide, hindurch durchs Missing Link zu den gemeinsamen Vorfahren und weiter, bis zum Ursprung, da wo alles anfängt, oder, je nachdem, eben zu Eva - eine lange sich verzweigende Nabelschnur, an der die Biografien der Menschen hängen, wie ein Seil im Gebirge, an dem man sich auf schmalem Pfad über dem Abgrund festhält ... - diese Unglaublichkeit also, plötzlich atmen zu müssen, Luft holen. Schreien. Strampelbewegungen, die plötzlich nicht mehr durch den Bauch der Mutter eingeengt werden, sondern einfach in der Leere verpuffen, auf einmal ist der Uterus so unglaublich viel größer, auf einmal ist man im All, eine Odyssee beginnen, und saust um die Sonne, und kreist, und nach jeder Umdrehung, sagt man, ist man ein Jahr älter und feiert den Ort seiner Geburt. Als Kind entdeckt man die Zeit dann irgendwann, es gibt Oma und Opa, und die haben Falten und es ist auch ganz klar, wer erwachsen ist und wer nicht, als Kind weiß man so was, und weiß auch, dass man dereinst mal, es ist ganz weit weg, auch erwachsen sein wird, das Ganze ist so klar unterschieden, als müsse man nur über ein Seil hüpfen und schon ist's passiert. Die Zeit, das ist der lange Nachmittag der Kindheit und das Quengeln am frühen Abend, weil man ihn nicht zu Ende gehen lassen will, weil man keine Geduld hat, weil Morgen so weit weg ist, und Schlafen kann man immer noch. Und man kreist weiter um das Zentralgestirn, das selbst unterwegs ist, und uns mit sich zieht, und die Körper der gleichaltrigen Mädchen verändern sich, und dann noch mal rum, und der eigene Jungenkörper verändert sich auch, Oberlippenflaum, schüchternes Schamhaar, Pickel - und da heißt es, die verschwinden dann nach der Pubertät wieder, aber später entdeckt man, dass das auch nicht so ganz stimmt - und dann bleibt man heimlich wach, Schwarzweißbildröhre, kurz vor Sendeschluss, da kommt ein Film, und da verspricht man sich ein paar Stellen, wo vielleicht was zu sehen ist, Frauenbrüste! Herzklopfen, Aufregung. Und auf einmal gibt es da diese Unterleibsleidenschaften - Tempobedarf, und dann verliebt man sich das erste Mal und entdeckt die Zeit nochmal, wie sie sich in einem selbst dehnen und zusammenziehen kann. Aus Sandkastenstunden sind Schulstunden geworden und aus Schulstunden Arbeitsstunden. Die Kindergartenfreunde, dann die Klassenkameraden, dann die Arbeitskollegen. Die Pläne, die Zukunft, die Erwartung. Und Kinder fangen an, einen zu siezen, aber man hat sich das doch so ganz anders vorgestellt, man fühlt sich gar nicht so viel anders, irgendwie hat man es verpasst, gar nicht mitbekommen, wann es so weit war, wann man erwachsen war, und kann es nicht so recht glauben, Führerschein hin oder her. Eine eigene Wohnung. Man nabelt sich ab. Und versucht sich an Einsichten in die Welt, Aussichten. Als Künstler ist es ja nicht ganz einfach. Als Künstler muss man es zwei, drei Jahre nachdem man studiert hat geschafft haben, heißt es, dann sinken die Chancen rapide. Tief Luft holen. Als Autor glücklicherweise - auch wenn hier in letzter Zeit ebenfalls das Je-jünger-je-besser modisch wird und Einzug hält - als Schriftsteller also ist man jung, ein junges Talent, eine Hoffnung, solange, bis man für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird. Ab heute jedenfalls bin ich ganz offiziell noch mal erwachsener: Das Mindestalter für den Bundespräsidenten Deutschlands ist im Grundgesetz auf vierzig Jahre festgelegt. Es ist damit rechtlich gesehen ein Alter, das eine gewisse Reife erwarten lässt (1). Das Jahr hat 365 Tage und es gibt 7 Milliarden Menschen, das heißt, es gibt viele Millionen, die heute Geburtstag haben - und es ist daher vielleicht immer ein wenig albern, Prominenz aufzuzählen, die am gleichen Tag geboren ist. Geburtstag haben Annette von Droste-Hülshoff, Gunther von Hagens, Rod Stewart, Peer Steinbrück, was für eine Mischung! Der Cellist Mischa Maisky, der Boxer George Foreman und Deep Throat Linda Lovelace. "Alea iacta est" hat Julius Caesar gesagt, als er über den Rubicon gegangen ist, lang ist es her, ein gutes Stück Nabelschnurlänge zurück, heute im Jahr 49 vor Christus, und, näher bei uns, am 10. Januar 1863, 108 Jahre bevor ich aus dem Gebärmuttertunnel ans Licht kam, wurde die älteste noch bis heute genutzte U-Bahn der Welt aufgemacht, die Metropolitan Line in London (2). In Paris starb im Jahr und am Tag meiner Geburt, Coco Chanel in ihrer Suite im Hotel Ritz. "Eine Frau kann mit 19 entzückend, mit 29 hinreißend sein, aber erst mit 39 ist sie absolut unwiderstehlich. Und älter als 39 wird keine Frau, die einmal unwiderstehlich war", wird sie oft zitiert. Für Männer gilt wohl der trockenere Beginn des Wikipedia-Artikels zur Zahl 40: "Die Vierzig ist die natürliche Zahl zwischen 39 und 41. Sie ist gerade." Die Chanel war dann 49 Jahre lang 39. "So stirbt man also", sollen ihre letzten Worte gewesen sein, und Cocos Fünfte wirkt immer noch ähnlich eindringlich auf die Sinne, wie die von Beethoven: Chanel Nº 5, ihr von Ernest Beaux ersonnenes erstes Parfum, das ein halbes Jahrhundert älter ist als ich. Ich bin ein Sonntagskind, gegen 22 Uhr geboren, und meine Mutter musste ganz schön nach der Schwester läuten, denn einer der allerersten Tatorts lief gerade. Genauer gesagt, der dritte, das habe ich nachgesehen: "Kressin und der tote Mann im Fleet" hat er geheißen, und wahrscheinlich war es gerade sehr spannend und wahrscheinlich konnte die Schwester, weil ich kam, das Ende nicht sehen. Und ich habe meine Nabelschnur verloren und das erste Mal Luft geholt und geschrieen. Und dann gings rund. Rum um die Sonne, Runde um Runde. Tatort-Gucker bin ich keiner geworden. Und eigentlich wollte ich mich hier jetzt verjüngen, mich rasieren, den Bart abnehmen, aber das dauert mir jetzt zu lange, lieber mache ich uns eine große Flasche Wein auf.

Vielen Dank, zum Wohl und auf meine Eltern!
 

Nikolai Vogel
am 10. Januar 2011



1: Wikipedia Artikel zur Zahl 40

2: Manche sagen aber, die nicht mehr in Betrieb stehende Strecke des "Cobble Hill Tunnel" in New York wäre die älteste - kommt darauf an, ob man sie als U-Bahn oder nur als Eisenbahntunnel wertet.


Photo © by Eltorn
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