Nikolai Vogel - Mißlungene Texte: Leser

aus Nikolai Vogel: "Mißlungene Texte", Black Ink, Scheuring 1998
 

LESER

Viele Tage im August verbrachte er im Haus, sperrte sich weg, wollte die Leute nicht sehen. Dann hatte er Angst, sich selber zu verlieren, und bewegte sich, bis er jeden Abend mit seiner Erschöpfung ins Bett sank, auf den Straßen. Manchmal wollte er alles verändern, aber die Tage blieben an ihm kleben. Hitze staubte draußen herum, und er vergrub sich wieder in den Zimmern, bemühte sich, tagsüber alles in Ordnung zu bringen, ließ es in den Nächten erneut verkommen und sprach mit seinen Büchern. Einmal in der Woche ging er, besorgte Essen und Getränke und war müde, hatte er alles die Stufen hochgestemmt. Morgens traf ihn die Sonne ins Gesicht, weckte meistens, und doch stand er erst spät mittags schweißnaß auf, nahm sich ein Buch und Frühstück. Die Bücher waren Verbündete, sie beschäftigten ihn nachts, bis der Wein ihn ins Bett warf.
   Er las viele Bücher quer durcheinander, liebte es, noch ungelesene Titel aus dem Regal zu nehmen, in der Hand zu wiegen, zu begutachten und wieder zurückzustellen, gespannt, was darin seiner harrte. Seine Bibliothek war nicht sehr groß, aber er betrachtete sie als ausgewählt erlesen, einige hundert Titel, von denen er manche schon oft durchgegangen war, andere noch aufsparte. Er hatte beschlossen, keine mehr hinzuzukaufen, glaubte sich im Besitz alles für ihn Besten, wollte nicht mehr, sich nicht an Überflüssiges verschwenden.
    Er befand sich in den Texten, sie waren sein Raum, und nur durch ihn wurde dieser lebendig.
    Und so fühlte er sich sehr frei, bereiste verschiedene Räume, zugehörige Zeiten, und enthielt sich dem Übrigen, von dem er annahm, daß es darin für ihn keinen Platz gab, so weit er konnte.
    Auf seine Bücher konnte er sich verlassen, sie boten zwar Überraschungen, waren dabei aber lange nicht so unbeständig, veränderlich und unberechenbar wie das Übrige - und auch nicht so langweilig und monoton; in ihnen lebte er sicher und gerne. Besonders mochte er das wieder Lesen und Erinnern von bereits Bekanntem, das darin Verweilen und Gott Sein im Text, den er kannte, dem er immer einen Schritt voraus war. Er ließ sich davon durchziehen, ließ den Wortstrom seine Phantasien und Vorstellungen davon immer genauer ausschleifen und polieren, bis es in ihm glänzte, bei jedem Wort unzählige Echos hallte, und er sich bei jedem nochmal Lesen noch genauer an den Text schmiegte, eindrang, sich in ihm löste, mit ihm verband, immer vielfältigere, komplexere und engere Beziehungen herstellte, das Höchste empfand. Und je genauer er die Texte kannte, desto besser gelang ihm ein Leben darin, je mehr es waren, desto freier wurde er, und alle die er hatte waren ihm genug, sollten seine Insel, seine Welt werden, die er und die ihn füllte.
    Eines Abends griff er zu einem Buch, das er schon einige Male gelesen hatte und es in sich, sich darin vertiefen wollte, und las. Nach einigen Seiten legte sich ein leichtes Gefühl der Unruhe in ihn, und je weiter er vordrang, desto unwohler empfand er dabei, und er war sich unschlüssig, unsicher, machte seine Stimmung dafür verantwortlich, legte es beiseite und versuchte sich an anderem, wo es gelang.
    Einige Tage später griff er zu dem beiseite Gelegten, das ihn wieder anzog und fand sich erneut nicht darin, die Worte gingen immer ganz dicht an seinen Erinnerungen vorbei, er konnte nicht genießen, scheiterte seltsam dabei, stellte das nicht Funktionierende verwirrt ins Regal zurück, sich nicht entsinnend, je ähnliches erlebt zu haben und tröstete sich am roten Wein, der schöne Schatten warf.
    Nur weniges danach mißlang ihm ein anderes Buch, jedoch eines, das er sicher kannte, in dem er liebte, ein fester Bestandteil - etwas war anders.
    Seine Abende vergingen nun unruhig, er wußte vorher nie, ob er die ersehnte Entspannung im Text finden würde, und immer öfter konnte es passieren, daß er mitten in einem Satz stockte, seinen Fortgang nicht ertrug, wild durch Bücher blätterte und doch nicht wußte, was ihn erschreckte. So geschah es, daß er bald nur noch zu den Werken griff, die er bereits Wort für Wort wußte, die schon lange völlig in ihm lagen und deren Seiten sich durch vielseitige, enge Verflechtungen auf ihn bezogen, sich die unerwünschte Unsicherheit nicht einstellen konnte und durfte, und ihm wieder Vertrauen gaben.
    Und mitten in solchem Buch in Sätzen, die beim Lesen fast aus ihm in das Buch zu fließen schienen, floß ein Satz im Buch anders als der seiner Kognition, lief verändert weiter, entgleiste ihm.
    Das hastig zugeschlagene Buch schwer in seinen Händen und er verwirrt und sich nicht glaubend, ohne Mut noch weiter zu lesen, ohne Ruhe zu schlafen, wie vertrieben ein langes Sitzen und Starren in sich, bis der Schlaf doch drüber hinweg schlich.
    Vor dem nächsten Abend hatte er sich eine Taktik zurechtgelegt, er würde kämpfen, und so schrieb er eine Stelle eines ihm bekannten Buches, verglich dann und wurde erfüllt durch Übereinstimmung, schrieb weiter, verglich... Das so überprüfte Buch stellte er getrennt von den anderen in ein Regalfach.
    Diese Arbeit nahm ihn nun hauptsächlich in Anspruch, befriedigt sah er die kontrollierten Bücher Regalfächer füllen, und beinahe hielt er seine Unsicherheit schon für Gespinst - bis das erste Mal eine Abweichung auftrat, sich die verglichenen Stellen in einer Wortendung unterschieden. Es konnte ihm ein Fehler unterlaufen sein? Erregt schrieb er weiter, verglich angespannt, wieder ein Endungsfehler, verdrehte Satzstellungen, weiter, andere Wörter, der gedruckte Text verlief sich, hatte bald kaum noch Übereinstimmung mit seinem imaginierten, zeigte in Unbekanntes. Das erkrankte Buch wurde von den anderen getrennt, isoliert lag es bald auf dem Boden eines anderen Zimmers, wo es nach und nach mit anderen einen wachsenden Stapel bilden sollte. Vor diesem Stoß fürchtete er sich, er mied ihn und kam nur in seine Nähe, um ein weiteres Buch auf ihn zu legen, die wachsende Unruhe in seinem Leben.
    Irgendwann hatte er den Sortiervorgang beendet, war nun im Besitz einer deutlich geschrumpften, aber als sicher anzusehenden Sammlung, hatte einiges für ihn Wertvolles verloren, die wenigen noch ungelesenen Titel hatte er, um Risiko zu vermeiden, auch aussortiert, und bereitete sich nun vor auf das, dessen Stimmung er mit sich von einem schweren Schicksalsschlag erholen, nach einem Umbruch des eigenen Selbstverständnisses sein Leben neu ordnen, bezeichnen wollte.
    Es folgten einige Abende mit den ersehnten Momenten eines Glücks und zufriedenem Wiedererwachen des Vertrauens in die eigene errichtete, abgeschlossene, fehlerfrei funktionierende herum Welt und viel immer beruhigterem Schlaf bis in die Nachmittage, bis erneut ein Text verscholl, an dessen Stelle ein anderer stand, der versuchte, seine Erinnerung zu überschreiben.
    Bald versuchte er ein Auseinanderhalten gar nicht mehr. Er ließ Bücher in dem Augenblick fallen, in dem sie ihm fremd wurden, sie bedeckten den Boden, wurden selten ein zweites Mal gehoben, geöffnet, und entfernten sich immer weiter.
    Der Lesevorgang wurde mehr und mehr weniger befriedigend, wurde Verursacher zahlreicher Ängste und ließ sich bald nicht weiter kontrollieren, verselbständigte sich in ihm, brachte immer neue Kreationen hervor, wirbelte Phantasien, die ihm von der eigenen Imagination losgelöst erschienen und unter sich begruben.
    Er hatte eines seiner Lieblingsbücher immer wieder überprüft, indem er es vor dem Vergleich aus sich heraus abschrieb. Veränderungen ergaben sich immer wieder neu, selbst die von ihm geschriebenen Fassungen wanderten, spiegelten sich gegenseitig in wechselnden Variationen, zersprangen der Erinnerung.
    Und doch las er noch, war sich nie mehr sicher, ob er las.
    Sätze, Wörter - die Bruchstücke trieben in ihm strudelten schwammen nach oben versanken und trieben in neuen Zusammensetzungen erneut hinauf.

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